Prokrastination







Lernen? Ab morgen! Hausarbeit schreiben? Erst mal putzen. Alle schieben mal was auf. Ein
Psychologe erklärt, wann das zum Problem werden kann.
Hans Werner Rückert ist Psychologe und Psychoanalytiker. Er leitete 23 Jahre lang die
Psychologische Beratungsstelle an der Freien Universität Berlin und gründete dort 2014 die
Prokrastinations-Praxis.
Herr Rückert, wenn ich eine Netflix-Serie gucke, statt für eine Prüfung zu lernen, prokrastiniere
ich dann schon, oder bin ich nur faul?
Das kommt darauf an, wie Sie darüber denken. Wer faul ist, dem ist die Prüfung egal. Er lernt
einfach nicht. Wer prokrastiniert, will eigentlich lernen und To-dos abarbeiten, schiebt die
Aufgaben aber immer wieder auf und fühlt sich deswegen schlecht oder »faul«. Stattdessen
erledigt man dann andere Dinge: Man ruft eine Freundin an, man saugt die Wohnung, man
erstellt eine Spotify-Playlist …
Gibt es Aufgaben, die Menschen besonders gern aufschieben?
Wer prokrastiniert, kann sich seine Zeit häufig selbst einteilen. Es ist auch besonders
weitverbreitet. Deswegen ist Prokrastination unter Schülerinnen und Schülern oder
Studierenden auch besonders weitverbreitet. Das zeigen zahlreiche Studien, etwa eine
Untersuchung des kanadischen Forschers Piers Steel unter Studierenden: 80 bis 95 Prozent der
Befragten prokrastinieren ab und zu. Aber auch die Form der Aufgabe beeinflusst, ob man sie
eher aufschiebt. Je komplexer etwas ist, desto häufi ger fragt man sich, ob man der Aufgabe
gewachsen ist oder nicht. Das nennt man in der Psychologie »Selbstwirksamkeitserwartung«.





Warum tun viele Menschen das?
Auf manche Dinge hat man einfach keine Lust. Aber man empfindet trotzdem ein gewisses
Pflichtbewusstsein. Aufschieben ist wie ein Kompromiss mit sich selbst: Ich sage nicht ab,
mache die Aufgabe aber auch noch nicht. Und dann sucht man Ausreden, die das rechtfertigen.
Beispielsweise: »Oh, es regnet. Ich kann heute wieder nicht laufen gehen!« Das haben wohl
schon Steinzeitmenschen so gemacht: »Es schneit! Dann kann ich wohl nicht jagen.«







Können Sie ein Beispiel nennen?
Schülerinnen und Schüler oder Studierende hadern vor dem Schreiben ihrer Referate oder
Hausarbeiten oft mit den Fragen: Passt meine These oder mein Thema? Ist das alles auch gut
genug oder ausreichend wissenschaftlich? Habe ich ausreichend Material? Und schieben die
Arbeit dann immer weiter auf. Manche wollen ihr Bestes geben, beißen sich die Zähne aus, aber
sie erlauben sich – bevor sie überhaupt einen Satz ihres Referates oder ihrer Hausarbeit
geschrieben haben –, auch zu scheitern und es sportlich zu nehmen, wenn’s keine 1,0 wird.
Scheitern gehört zum Leben dazu. Für andere wäre es eine Katastrophe, durch die Klausur zu
fallen – bei ihnen ist es wahrscheinlicher, dass sie prokrastinieren.
Was kommt häufiger vor: Aufschieben aus Unlust oder aus Angst vor dem Scheitern?
Die meisten Menschen sind Vermeidungsaufschieber:innen – das heißt, sie schieben ab und zu
eine Hausarbeit oder eine Aufgabe auf, weil sie die mit ihr assoziierten negativen Gefühle
fürchten. Manche brauchen die Prokrastination auch, um überhaupt etwas zu erledigen. Das
sind die Erregungsaufschieber:innen, die »thrill seeker«. Sie bekommen einen Adrenalinschub,
wenn sie eine Aufgabe auf den letzten Drücker erledigen und die Hausarbeit um Mitternacht
abschicken. Sie trösten sich dann mit der Erzählung, dass der Druck sie motiviere.





Warum müssen sie sich trösten, es funktioniert doch?
Die Qualität von sorgfältig geplanter Arbeit ist natürlich in der Regel besser.
Erregungsaufschieber:innen haben keine Zeit, ihre Hausarbeit kritisch zu lesen oder gegenlesen
zu lassen. Viele sind stolz darauf, alles in letzter Minute zu schaffen, und rechtfertigen so die
schlechtere Qualität. Es hat ja gereicht. Man kann sich so immer sagen: Wenn ich mehr Zeit
gehabt hätte, wäre es besser ausgefallen.







Wann wird das Aufschieben zum Problem?
Wenn man nicht weiß, warum man seine Aufgaben liegen lässt, und anfängt, darunter zu leiden.
Das kann langfristig psychisch sehr belastend sein. Prokrastination kommt zwar nicht im
gängigen psychotherapeutischen Klassifi kationssystem ICD-11* vor, eine schwere
Prokrastination kann aber zum Beispiel Teil einer Depression sein. Prokrastination kann sich
zudem je nach psychischer Belastung unterschiedlich äußern.






Wie zum Beispiel?
Menschen mit Depressionen fehlt häufi g die Energie, überhaupt anzufangen. Menschen, die
zwanghaft sind, verlieren sich oft in Vorbereitungen. Menschen mit histrionischen Anteilen*
lieben Anfänge, aber scheitern häufig daran, etwas zu Ende zu bringen. Relevant werden diese
Verhaltensweisen, wenn Menschen darunter leiden oder es ihr Leben nachhaltig beeinträchtigt.
Sie haben als Leiter der Studienberatung und Psychologischen Beratung der Freien Universität
Berlin gearbeitet: Welche Probleme hatten die Studierenden?
Die meisten kamen wegen sogenannter Arbeits- und Leistungsstörungen. Sie hatten Sorgen wie
diese: Ich kriege es nicht hin, meine Bachelorarbeit zu schreiben, meine Hausarbeit rechtzeitig
einzureichen oder mich für Prüfungen anzumelden.







Was haben Sie den Studierenden dann geraten?
Erst einmal haben wir versucht zu verstehen, um welche Form des Aufschiebens es sich
handelt. Dann haben wir nach passenden Lösungsstrategien gesucht. In zwei Drittel aller Fälle
kann man Aufschieben durch Techniken und Übungen so eingrenzen, dass es kein Problem
mehr ist. Wenn man etwa beim Schreiben einer Hausarbeit prokrastiniert, kann es helfen, sich
jeden Tag ein konkretes Ziel vorzunehmen. Zum Beispiel: Heute lese ich zwei Texte für die
Hausarbeit. Wichtig ist, sich nicht zu viel vorzunehmen, die Zeit großzügig einzuteilen, Pausen
einzuplanen. Manchen hilft auch ein Lerntagebuch. Darin notiert man, wie man sich fühlt, wie
weit man gekommen ist, was die kommenden Tage alles ansteht, auch um zu checken, ob man
seinen Zeitplan anpassen sollte. Außerdem können Belohnungen helfen. Man kann einer
Freundin sagen: Ruf mich um 18 Uhr an. Dann hat man bis dahin Zeit für die Aufgabe.
Wie fange ich an, wenn ich die Aufgabe sehr kompliziert finde?
Mit kleinen Schritten. Wenn ein Text schwer verständlich ist, würde ich erst einen anderen Text
zum gleichen Thema lesen oder Sekundärliteratur. Und mich so nach und nach rantasten. Wenn
das nicht hilft, kann das ein Anzeichen dafür sein, dass es tiefergehende Gründe für das
Aufschieben gibt, um die man sich kümmern muss.






Welche könnten das sein?
Es kann sein, dass die Person etwas studiert, das sie nicht studieren möchte. Vielleicht haben
die Eltern eine Apotheke, und es war klar, dass man sie übernehmen würde. Im
Pharmaziestudium meldet man sich dann aber nie rechtzeitig zu Prüfungen an und versteht
nicht, wieso. Pharmazie war doch eigentlich eine gute Idee. Es ist einem vielleicht nicht
bewusst, dass man lieber was anderes machen möchte. Vielleicht ist man nur auf dem
Gymnasium, weil ein Abi ein hoher anerkannter Schulabschluss ist, aber eigentlich will man
lieber ins Handwerk.





Wie findet man das heraus?
Zunächst durch Reflexion: Warum kriege ich es nicht hin? Ist es eine Frage der Organisation?
Habe ich Angst oder keine Lust? Es kann sinnvoll sein, dafür zur Psychologischen Beratung der
Uni oder der Schule zu gehen.
Und was, wenn es nicht am Studienfach, an der Schule, den Leistungskursen oder der
Schulform liegt?
Auch entwicklungspsychologische Gründe können eine Rolle spielen. Die eigenen Werte haben
sich vielleicht verändert. Das hat nichts mit Lerntechniken zu tun, sondern mit persönlicher
Entwicklung. Auch Zukunftsängste können eine Ursache sein. Die Zeit im Studium oder in der
Schule ist schön, man hat viele Freiheiten. Unbewusst will man vielleicht nicht, dass das
aufhört.
Was hilft in solchen Fällen?

 

 

 

 

 

 

Mit jemandem zu reden, der sich auskennt. Vielleicht kann man seine Perspektive aufs Studium
oder auf die Schule noch ändern. Oder wechselt das Studienfach oder die Leistungs- und
Grundkurse. Das mag sich in dem Moment wie ein Scheitern anfühlen, ist aber vielleicht besser,
als wenn man dann sein ganzes Leben etwas macht, was einem nicht gefällt.
Wann wird das Aufschieben zum Problem?
Wenn man nicht weiß, warum man seine Aufgaben liegen lässt, und anfängt, darunter zu leiden.
Das kann langfristig psychisch sehr belastend sein. Prokrastination kommt zwar nicht im
gängigen psychotherapeutischen Klassifikationssystem ICD-11* vor, eine schwere
Prokrastination kann aber zum Beispiel Teil einer Depression sein. Prokrastination kann sich
zudem je nach psychischer Belastung unterschiedlich äußern.